Stuttgart um 1910: So sah das Leben damals in der Stadt aus
Das Leben in Stuttgart vor gut hundert Jahren sah natürlich deutlich anders aus als heute. Nicht nur das Stadtbild, auch die Gesellschaft hat sich verändert. Doch wie war es Anfang des 20. Jahrhunderts in der Stadt? Darüber haben wir uns mit dem Historiker Ulrich Gohl unterhalten.
Stuttgart Anfang des 20. Jahrhunderts
Stuttgart um 1910: Die Stadt hat damals ungefähr 300.000 Einwohner, also rund die Hälfte der heutigen Einwohnerzahl. Deutschland ist noch eine Monarchie unter Kaiser Wilhelm II. Insgesamt befindet sich Stuttgart Anfang des 20. Jahrhunderts im Aufschwung. Es besteht auch ein allgemeines Wahlrecht, der demokratische Schein trügt jedoch. Wählen dürfen nämlich nur Männer über 25 Jahren mit Gemeindebürgerrecht. Es sind also letztlich nur 10 % der Menschen wahlberechtigt.
Stuttgart ist Industriestadt
Die Industrie in der Stadt blüht auf. Stuttgart ist bereits eine entwickelte Industriestadt, d.h. auch eine Arbeiterstadt. Und die Industrie ist nicht wie heute außerhalb, sondern mitten in der Stadt. Ein wichtiger Standort war beispielsweise das Bosch-Areal. Viele Textilfabriken, Möbelfabriken, Federfabriken gab es in Stuttgart. Daimler hatte damals seinen Standort noch in Cannstatt, erst nach einem Großbrand 1903 wechselt der Autobauer nach Untertürkheim. Außerdem gab es die Kuhnsche Fabrik, die Hälfte aller Dampfmaschinen wurde dort gebaut. „Die Industrie war ungeheuer breit aufgestellt“, sagt Ulrich Gohl.
Es geht auf die Moderne zu
Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen viele Neubauten, so zum Beispiel die Markthalle und das Staatstheater. Es geht deutlich sichtbar auf die Moderne zu. Außerdem gab es eine ungeheure Technikbegeisterung in dieser Zeit. Vor allem, wenn es fliegen kann. Zeppeline, Flugzeuge oder Ballons sorgen für Freude in der Bevölkerung. Wenn ein solches Fluggerät z.B. getauft wurde oder Zwischenstopp in der Stadt machte, kamen tausende Menschen und auch Journalisten, um dabei zu sein.
Stadt ist konservativ geprägt
Die Rollenbilder sind um 1910 noch sehr fest, kommen aber zunehmend durcheinander: Während des ersten Weltkriegs werden Frauen zunehmend berufstätig und sind nicht mehr ausschließlich für den Haushalt und die Kinder zuständig. Die soziale Gliederung in der Stadt ist allerdings erkennbar und markant. Ein Beispiel: Vereinsstruktur. In einem Ort gibt es jeden Verein zweimal, einmal für die Bürger, einmal für die Arbeiter. „Das war nötig, weil vielfach die alteingesessenen Bürger auf die eingewanderten Arbeiter heruntergeschaut haben“, sagt Gohl. Im Leben ist damals das Thema Krieg allgegenwärtig. Auf vielen Bilder beispielsweise sieht man Kinder, die Krieg spielen.
Welche Bildungschancen gibt es?
Es bestand im frühen 20. Jahrhundert bereits eine Schulpflicht über 8 Jahre. Die Bildung insgesamt ist aber durch den Klassenunterschied geprägt. Jungs bekommen eher eine ordentliche Bildung als Mädchen, ebenso haben Kinder von Akademikern mit Geld mehr Chancen als Kinder von Arbeitern. In der Stadt gibt es mehr Bildung als auf dem Land. Auch die Religion spielt eine Rolle: So bekommen Evangelische bessere Bildungsabschlüsse als Katholiken.
Massensport blüht auf
Der Massensport beginnt in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Vor allem Fußball und Rugby werden sehr beliebt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird daher das Sportzentrum auf der Waldau gebaut. Dass man Sport nicht nur selbst betreibt, sondern auch anguckt, blüht in den 1920ern richtig auf. Der Sport wird vermehrt zur Freizeitbeschäftigung einer breiten Bevölkerungsschicht.
Ulrich Gohl bringt Buch heraus
Ulrich Gohl ist Historiker und Biologe. Als Autor zahlreicher Artikel und Bücher sowie als Ausstellungsmacher befasst er sich seit Jahrzehnten vor allem mit der Stuttgarter Stadtgeschichte. In seinem neuen, im Silberburg Verlag erschienenen Buch „Stuttgarter Alltagsleben im frühen 20. Jahrhundert“, präsentiert er das Beste aus dem „Schwäbischen Bilderblatt“. Dieses erschien am 8. Dezember 1907 als erste Illustrierte der württembergischen Residenzstadt als Beilage des renommierten liberalen „Stuttgarter Neuen Tagblatt“.
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Fotos: Schwäbisches Bilderblatt