Ausflug nach Bordeaux: Uraufführung von „Die Rache ist mein“ im Kammertheater
Es gibt keine Sicherheiten in diesem verstörenden Stück. Keine klaren Motive, keine eindeutigen psychologischen Herleitungen. Die wenigen Figuren umgibt dabei eine seltsame Fremdheit, aber auch Unkalkulierbarkeit. Das macht jedoch den Reiz des neuen Romans von Marie NDiaye aus. Unter Annalisa Enghebens Regie kommt die Geschichte nun als Theaterstück auf die Bühne des Kammertheaters.
Neues Stück feiert Premiere im Kammertheater
Annalisa Enghebens Inszenierung erzählt mit nur vier Schauspielern die komplexe Geschichte um Schein und Sein. Musikalisch unterstützt wird das Stück vom Duo Geza Cotard. In den von Marie NDiaye entworfenen Universen dreier ganz unterschiedlicher Frauen verschwimmen die Ebenen von Realität, Fiktion und Interpretation. „Die Bühne ist der ideale Ort, um mit der Dekonstruktion von Realität zu spielen und neue Räume zu entwerfen“, sagt Regisseurin Annalisa Engheben. Marie NDiayes literarische Sprache eröffnet vielschichtige Perspektiven, denen sich die Inszenierung auf szenisch sehr unterschiedliche Arten annähert. „Was sichtbar wird, sind die unüberbrückbaren sozialen Gräben, das gegenseitige Verkennen zwischen den Klassen und innerhalb der Klassen“, so Engheben. Am Samstag, 11. März 2023 um 20 Uhr feiert „Die Rache ist mein“ Premiere im Kammertheater Stuttgart.
Darum geht es
In Maître Susanes Anwaltskanzlei in Bordeaux taucht ein Mann mit einem ungewöhnlichen Anliegen auf: Er bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder umgebracht hat. Noch beunruhigender als die scheinbar fehlenden Motive der Mutter ist jedoch die frappierende Teilnahmslosigkeit des Vaters. Die Anwältin sieht sich auf einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. In ihrem Klienten glaubt sie den Jungen aus reicher Familie zu erkennen, der ihrem Leben als 10-jähriges Mädchen eine unerwartete Wendung gab. Eine alles erfassende Unsicherheit schleicht sich in Maître Susanes Leben. Was ist Wirklichkeit, was ist Täuschung? Auch das Verhältnis zu Sharon, ihrer illegal eingewanderten Haushaltshilfe aus Mauritius, gestaltet sich zunehmend schwierig. Ein fein gesponnenes Netz aus Abhängigkeiten bindet die Akteure aneinander, nach und nach lösen sich die Umrisse einer vertrauten Realität auf.
Abbild der französischen Gesellschaft?
Drei Frauen im Gefängnis ihres Lebens: Eine Mörderin, die an der Einsamkeit eines ereignislosen Vorstadtlebens zerbrochen ist, eine Einwanderin ohne Papiere im Dienste der französischen Mittelschicht und eine stets funktionierende Anwältin, die ihre latenten Minderwertigkeitsgefühle unter einer zunehmenden Kälte zu verbergen versucht. Marie NDiaye entwirft in ihrem Roman ein raffiniertes Spiel mit unseren Erwartungen und Ängsten, eine Bestandsaufnahme moderner Lebenswelten, in der die soziale Herkunft das Leben stärker bestimmt, als wir uns eingestehen möchten. „Die Rache ist mein“ seziert die französische Gesellschaft zwischen bürgerlicher Gefühlskälte, der Scham der Aufsteiger und den Verwerfungen der kolonialen Geschichte.
Marie NDiaye ist mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin
Marie NDiaye wurde 1967 bei Orléans geboren. Mit 17 Jahren veröffentlicht sie ihren ersten Roman „Quant au riche avenir“. Sie schreibt Essays, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Theaterstücke, ihre Dramen „Hilda“ und „Papa doit manger“ wurden auch auf deutschen Bühnen gespielt. Für ihre Romane erhielt NDiaye zahlreiche Preise, unter anderem 2001 den Prix Femina und den Nelly-Sachs-Preis. 2009 wurde ihr für „Drei starke Frauen“ der wichtigste französische Literaturpreis, der Prix Goncourt, verliehen.
Hier findet ihr das Kammertheater Stuttgart:
VIDEO: Stuttgarter Theaterstätten – So vielfältig ist das Angebot in Stuttgart
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Foto: Björn Klein