Es ist dunkel. Stockdunkel. Ich warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen und ich die Umrisse der Personen um mich herum erkennen kann – vergeblich. Etwas hilflos greife ich in die Dunkelheit vor mir hinein und ertaste den Stoff einer Bluse. Ich bin erleichtert, dass ich nicht alleine hier stehe und rücke noch ein Stück näher an die Frau vor mir heran. Die Menschen um mich herum sind mir fremd, aber doch stehen wir jetzt dicht an dicht. Mit kleinen und vorsichtigen Schritten begeben wir uns gemeinsam weiter in den dunklen Raum hinein. Wir haben ein Blind Date mit Stuttgart.
Akustisches Stuttgart
In einem komplett dunklen Raum im StadtPalais habe ich Stuttgart gemeinsam mit vier weiteren Besucher*innen auf eine ganz neue Art und Weise kennengelernt. Der Guide und gleichzeitig auch Kurator der Ausstellung „Blind Date mit Stuttgart“, Matthias Nagel, hat uns an seine Hand genommen und gezeigt, wie er unsere Stadt als blinder Mensch wahrnimmt. Ich musste die Dunkelheit zu Beginn einige Minuten auf mich wirken lassen, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass meine Sehkraft mir hier nichts bringen würde. Dann hatte ich sogar das Gefühl, als würden meine anderen Sinne ausgeprägter funktionieren. Die akustischen Geräusche waren am eindrucksvollsten und konnten mir bei der Orientierung helfen. Doch nicht nur das. Sie transportierten auch eine Stimmung mit sich. Nagel erklärte uns, dass er so auch spüren kann, welche Orte in Stuttgart schön sind und welche nicht. Genau diese Gefühle zu Stuttgart will er Sehenden gemeinsam mit seinen Co-Kuratorinnen Claudia Böhme und Maria Seidler durch die Ausstellung herüberbringen. Eine Stadt, wo sich manch schöne Orte eben auch verstecken. Das nehmen auch Menschen mit einer Sehbehinderung wahr.
Berührungspunkte
Doch nicht nur die Geräusche haben mir geholfen, meinen Weg durch von Station zu Station den dunklen Raum zu finden. Auch alle anderen Sinne wurden angesprochen – insbesondere der Tastsinn. Ich hatte zu jeder Zeit die Arme von mir gestreckt, um zu fühlen, wer oder was um mich herum war. Wo ist der Guide? Wo sind die Wände? Gibt es irgendwelche Hindernisse? Aus diesem Grund bereitete uns Nagel schon zu Beginn darauf vor, dass es auch zu Berührungen mit den anderen Besucher*innen kommen wird. „Es gibt einige Personen, die kommen da gut mit zurecht, aber distanziertere Menschen eben nicht so. Besonders bei öffentlichen Führungen ist das immer spannend mit anzusehen, wenn die Menschen sich untereinander nicht kennen“, erklärt der Kurator. Das ist laut Nagel auch ein Grund dafür, dass jede Führung anders ist als die davor, auch wenn der Aufbau der Ausstellung sich nicht ändert.
Ursprung der Ausstellung
Es soll eine Ausstellung komplett im Dunkeln sein, in der es um Stuttgart geht. Das waren die einzigen Vorgaben, die die Co-Kurator*innen Claudia Böhme, Matthias Nagel und Maria Seidler für die Ausstellung „Blind Date mit Stuttgart“ bekommen haben. Alles andere war für sie ein weißes Blatt Papier. „Hier haben wir die Möglichkeit bekommen, etwas zu schaffen, wo Blinde und Sehbehinderte nicht in der Rolle der Konsumierenden sind, sondern in der Rolle der Guides, die die Gruppen von Sehenden durch eine komplett dunkle Ausstellung führen“, sagt Nagel. Der Kurator findet, dass dieser Perspektivenwechsel die Ausstellung zu etwas Besonderem macht und zur Sensibilisierung von Sehenden beiträgt. Noch bis zum 5. Mai 2024 können Besucher*innen in der Ausstellung im StadtPalais in die Rolle von blinden und sehbehinderten Menschen schlüpfen. Mehr Informationen zu der Ausstellung findet ihr hier.
VIDEO: Auch die Staatsgalerie Stuttgart hat im letzten Jahr ein inklusives Konzept gestartet, um Blinden Kunstwerke erlebbar zu machen
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Foto: STUGGI.TV